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Bernhard Kleeberg, Universität Konstanz

Klassenverhalten
Zur psychophysischen Idiomatik der Unterschichtensoziologie

presented by Johannes Scheu

Draft, not for citation

Man is by nature a social animal. […] But the existence of society, from a family to a state, supposes a certain harmony of sentiment among its members; and nature has, accordingly, wisely implanted in us a tendency to assimilate in opinions and habits of thought to those with whom we live and act. There is thus, in every society great or small, a certain gravitation of opinions towards a common centre. As in our natural body, every part has a necessary sympathy with every other, and all together form, by their harmonious conspiration, a healthy whole; so, in the social body, there is always a strong predisposition, in each of its members, to act and think in unison with the rest. This universal sympathy, or fellow-feeling, of our social nature, is the principle of the different spirit dominant in different ages, countries, ranks, sexes, and periods of life. [1]

Die anthropologische Tendenz zur Assimilierung von Meinungen und Gewohnheiten als Basis menschlichen Sozialverhaltens, wie sie der schottische Philosoph und Professor für civil history in Edinburgh William Hamilton hier bestimmt, soll als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dienen, bezieht Hamilton sein Konzept sozialer Gewohnheiten doch explizit auf die soziale Formierung epistemischer Objekte. [2] Hamilton zielt hier auf Denkgewohnheiten als durch permanente Wiederholung derselben Handlungen oder Leidenschaften erworbene Tendenzen, Gegenstände wie durch ein spezielles Prisma stets in einer bestimmten Art und Weise zu betrachten. [3] Die solchermaßen vonstatten gehende Verinnerlichung eines bestimmten Blicks wird durch Wiederholung oder Übung aufrechterhalten, so daß latentes Wissen entstünde, das in bestimmten Situationen auch unbewußt aufgerufen werden könne [4]tacit knowledge avant la lettre. Gewohnheiten sind es, die die zweite – kulturelle – Natur des Menschen bestimmen, seine spezifischen Sitten und Gebräuche, seine Denk- und Glaubensmuster, sein Verhalten, seine Sprache und Idiome. [5] Sind sie stark ausgebildet, so sind sie, wie Hamilton im Anschluß an assoziationspsychologische Ansätze (Hartley, Reid) betont, nur schwer, mit besonderem Energieaufwand und besonderer Anstrengung zu durchbrechen. [6]

Hamiltons Ausführungen sind von doppeltem Interesse für eine wissenschaftshistorische Analyse des Konzepts des „Klassenverhaltens“ der frühen Sozialforschung, denn mittels des Begriffs der „Gewohnheit“ wird hier nicht nur ein Angebot zur Deutung der Selbstregulation sozialer Gruppen in spezifischen Umwelten gemacht, sondern gleichzeitig auch die Beobachterperspektive selbst zum Objekt, bezieht sich die Idee der Gewohnheiten doch ausdrücklich auch auf epistemische Zusammenhänge, wie beispielsweise die Schwierigkeiten neuer wissenschaftlicher Ansätze, mit überkommenen Denktraditionen zu brechen. Ein neuer wissenschaftlicher Ansatz läßt sich auch in den frühen britischen Gesellschaftsanalysen ausmachen, wie sie im Rahmen der Auseinandersetzungen um die soziale Frage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgenommen wurden. Sie bewegen sich zwischen medizinisch-psychologischen, anthropologisch-zivilisationstheoretischen und ökonomischen Diskursen, und scheinen zunächst nicht mit Übersetzungsproblemen zu kämpfen zu haben: Die Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen Disziplinen und die mit dieser einhergehende Herausbildung spezifischer Methodiken und Fachidiome ist noch nicht so weit vorangeschritten, als daß man Konzepte und Begriffe nicht zwischen den verschiedenen Diskursen verschieben könnte. Obwohl hier also noch nicht sinnvoll von interdisziplinären Übersetzungsprozessen gesprochen werden kann, lassen sich doch zwei zentrale Übertragungszusammenhänge ausmachen, die zur Konstitution der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin beitragen: (1.) Medizinisch-psychologische Konzepte individuellen Verhaltens werden im Rahmen von Deutungen sozialen Gruppen verhaltens angewandt, wo sie zum Ausgangspunkt sozioökonomischer Theorien wie pragmatisch-administrativer Ansätze werden. (2.) Anthropologische Bestimmungen des ‚barbarischen‘ Verhaltens sogenannter primitiver Rassen und Kulturen werden in Kontexten der innerstaatlichen Zivilisierung als Maßstab zur Einschätzung und Beurteilung sozialer Klassen angewandt.

In beiden Fällen modifiziert die Übernahme von Konzepten und Praktiken die epistemische Rezeptionskultur, in der sie einen neuen Blick auf das Sozialverhalten der Unterschicht eröffnet. [7] Das psychophysiologische Konzept der ‚Gewohnheit‘ wird also nicht einfach übernommen – es generiert vielmehr als boundary concept [8] eine neue Perspektive auf die Gesellschaft und damit die Konstruktion eines neuen, sozialwissenschaftlichen Wissensbereichs, in dem sich unterschiedliche theoretische und praktische Zugänge zur sozialen Frage bündeln. Damit geht es in den folgenden Überlegungen in erster Linie um Fragen konzeptueller Mediation , [9] wobei mit dem Sozialverhalten auch die Kategorie der Identitätsbildung angeschnitten wird, die bereits selbst einen Gegenstand früher sozialwissenschaftlicher Beobachtungen darstellt, soweit diese die Herausbildung soziokultureller Identitäten über das Konzept der Gewohnheit bestimmen, die „Charakter“, „Sitten“ und „Gebräuche“ prädisponieren. Ein spezifischer solcher Charakter wurde neben Kindern insbesondere der Unterschicht und den ‚primitiven‘ Völkern zugeschrieben. Diese seien im Rahmen ihrer Gewohnheiten nicht dazu in der Lage, vorausschauend und rational zu handeln, folgten statt dessen unmittelbar ihren natürlichen Bedürfnissen. So schienen Disziplinierungsmaßnahmen unumgänglich, die sich in den Diskursen zur sozialen Frage an der Leitunterscheidung zwischen unverdienter und verdienter Armut orientierten. [10]

I. Kontexte: Psychophysiologie und Zivilisationstheorie

Das Konzept der Gewohnheit , wie es die Psychophysiologie seit Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt, findet um 1800 zunehmend Einzug in Wissensfelder der Politischen Ökonomie, Zivilisationstheorie und sozialwissenschaftlichen Analyse. Darüber hinaus informiert es einen neuen praktisch-administrativen Umgang mit Armut, der während der Pauperismuskrise immer dringlicher geboten zu sein schien. Die Auseinandersetzung mit psychophysiologischen Zusammenhängen zwischen Umweltstimulation und animalischer Reaktion, mit Fragen lebendiger Entwicklung, organismischen Gleichgewichts und Gedächtnisses bedeutete eine entscheidende Transformation der traditionellen Mikro-Makrokosmos-Analogie zwischen Mensch und Natur. An die Schnittstelle zwischen den moralphilosophischen bzw. mechanistischen Postulaten der Willensfreiheit bzw. Determination trat eine vermittelnde Position, die es erlaubte, die Kräfte sozialen Wandels und sozialer Beharrung neu zu bestimmen. Der ambivalente Charakter, der menschlichen Bedürfnisse in diesen Diskursen zukam, lag darin, daß hier vitale Kräfte benannt waren, die der Selbsterhaltung des Menschen als organischem System dienten, ihn darüber hinaus zu Handlungen motivierten, die eine progressive zivilisatorische Entwicklung forcierten. Allerdings basierte diese stimulierende Kraft in erster Linie auf Unlustvermeidung, nahm ihren Anfang in Hunger und Leid als notwendigen Übeln. Demgegenüber sah man in der Lust, die in der unmittelbaren Befriedigung der Appetite lag, etwas Negatives, denn sie setzte die Handlungsstimuli aus. Da Vernunft und Willensfreiheit dem Menschen die Möglichkeit eröffneten, unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zu widerstehen, negierten diejenigen, die sich den Anstrengungen der Selbstkontrolle verweigerten, ihre Menschlichkeit als solche – zu sehen, insbesondere bei den sogenannten „primitiven Völkern“. Im Rahmen ökonomischer und physiologischer Erwägungen zu Subsistenzsicherung und körperlichem Energiehaushalt wurde eine solche unmittelbare Bedürfnisbefriedigung zunehmend als schlechte Angewohnheit interpretiert, die sich in bestimmten Umwelten herausgebildet und verfestigt hätte. Hier, und nicht bei moralischem Versagen müsse angesetzt werden, wolle man Armut effektiv bekämpfen.

Ausgehend von Aristoteles’ Unterscheidung zwischen vegetativen, appetitiven und rationalen Lebenskräften verhandelte man menschliche Tugenden um 1800 anhand der Maßgabe, daß sich der appetitive Seelenteil in seinem Bestreben, Lust zu gewinnen und Unlust zu vermeiden den Bedingungen des rationalen Seelenteils unterzuordnen habe. In der Psychophysiologie diskutierte man das Verhältnis zwischen körperlicher Notwendigkeit und Freiheit des Geistes im Zusammenhang mit animalischen Appetiten, Begierden und Leidenschaften, der Rolle externer Stimuli sowie Instinkten und physiologischen Gewohnheiten. Diese waren von zentraler Bedeutung, denn sie leiteten Aktivitäten, die der Selbsterhaltung lebendiger Organismen, ob Tieren oder Menschen, dienten. So argumentierte Erasmus Darwin in seiner Zoonomia (1794-1796), daß externe Stimuli, die zu Lust und Schmerz führten, jedwede lebendige Bewegung affizierten, da sie in der Formierung eines „instinktiven Wissens“ resultierten. [11] Auch wenn der menschliche Willen über mehr Energie verfüge [12] und seine Sinne ihn zu einem höheren Abstraktionsniveau befähigten, folge auch er denselben animalischen Appetiten wie andere Lebewesen, prädisponiert durch angenehme Gefühle im Säuglingsalter, [13] die in sein physiologisches Gedächtnis eingegangen seien.

In seinem Eintrag in der Cyclopaedia of Anatomy and Physiology unterscheidet auch William Pulteney Alison fünfzig Jahre später zwischen Handlungen, die durch Empfindungen von Lust und Schmerz hervorgerufen werden, und rationalen Handlungen, die mit dem Ziel ausgeführt werden, bestimmte Gegenstände zu erlangen. [14] Da menschliche Handlungen – außer Reflexbewegungen wie dem Niesen – auf physiologischer Notwendigkeit und geistiger Freiheit basierten, könne der Mensch der unmittelbaren Befriedigung seiner Bedürfnisse widerstehen, [15] die Vernunft eröffne ihm Wege, sein Handeln auf die Zukunft hin auszurichten. Im Gegensatz zur „bewundernswerten Adaption“ animalischen Verhaltens an spezifische Zwecke wie Nahrungssuche und Nestbau, so führt Alison mit Locke aus, verfüge der Mensch über die Kraft, mittels Abstraktion generelle Vorstellungen zu entwickeln, die es ihm erlaubten, die Unmittelbarkeit instinktiven Verhaltens zu durchbrechen und die Folgen seiner Handlungen zu antizipieren. [16] Ließe er sich in seinem Willen von der Vernunft leiten, so sei er in der Lage, sein Leben – in gewissem Maße – selbst zu regulieren, statt sich von der Natur regulieren zu lassen.

Wie weit allerdings die Autonomie des Menschen wirklich reichte, war keinesfalls ausgemacht. In dieser Hinsicht entscheidende Impulse bekam der psychophysiologische Diskurs über Determination und Willensfreiheit, Bedürfnisbefriedigung, Instinkte und Gewohnheiten aus den Reihen der Mitglieder der Royal Medical Society der University of Edinburgh , an der auch Alison lehrte. In Anknüpfung an David Hartleys Modifikation des „physiologischen Newtonianismus“ [17] entwickelte Robert Whytt, das hat Kurt Danziger herausgestellt, ein neues Schema organischer Aktivität. Im Rahmen dieses Schemas standen externer Stimulus und organische Reaktion nicht in einem direkten, kausalen Verhältnis, sondern wurden durch eine Form organischer Erfahrung vermittelt. Deren Ausdruck waren Aktivitäten zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen: Gewohnheitshandlungen. Whytts Nachfolger William Cullen (1710-1790) führte dieses Schema aus, indem er die funktionale Äquivalenz mentaler und physischer Ursachen organischer Bewegungen betonte. So konnten auch willentliche menschliche Handlungen als kausale Wirkungen mentaler Ereignisse erklärt werden. Auch wurde damit die Rolle von Gewohnheiten zur Regulierung organischer Funktionen unterstrichen, denn Empfindungen und Gefühle konnten habituell mit ursprünglich rein physischen Ursachen assoziiert werden – so führe etwa die Erinnerung an eine Mahlzeit zur Produktion von Speichel. [18] Vergangene psychische und physische Erfahrungen eines Organismus regelten also dessen gegenwärtige und zukünftige Umweltbeziehung – gemäß der Tendenz jedes lebenden Systems, wie Cullen es ausdrückt,

of supporting the system in a certain condition for a certain time, and of averting what might hurt or destroy it. […] Now, whether this power is to be imputed by the body or mind it is not necessary to inquire here; the fact is enough, that there are motions which may be imputed to a Vis Medicatrix Naturae, to a tendency in the animal economy to redress its own deviations. [19]

Damit beschrieb Cullen die Selbstregulation organischer Systeme als einen Mechanismus, der maßgeblich durch Gewohnheiten abgesichert wird – durch habituelle Bewegungen, die zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen sowie zwischen Organismus und Umwelt vermitteln. In dieser Funktion sind Gewohnheiten auch in moralphilosophischer Hinsicht von hoher Relevanz, denn als Kategorie, in der sich das Reich der Freiheit mit dem der Notwendigkeit trifft, lösen die den Dualismus zwischen Geist und Materie in ein Kontinuum auf, innerhalb dessen sich Urteile über unmoralische Absichten nicht mehr ohne weiteres treffen lassen. An seine Stelle tritt die Opposition zwischen Organismus und Umwelt, mit der die Relevanz des Milieus gegenüber individuellen Tugenden steigt – ein Gedanke, der für die Beurteilung von Armut anhand von Umweltbedingungen oder individueller Moral von eminenter Bedeutung ist.

Daß sich psychophysiologische und ökonomische Diskurse über das Denkmuster systemischer Selbstregulation verbinden, wie sich etwa in David Humes Essay on the Balance of Trade (1752) oder Adam Smiths Wealth of Nations (1776) zeigt, ist bekannt und soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Deren pessimistische Variante und zugleich prominenter Bezugspunkt des Armutsdiskurses findet sich in Thomas Robert Malthus „eisernem Bevölkerungsgesetz“, das er 1798 in seinem Essay on the Principle of Population vorgestellt hatte. Malthus Idee einer zirkulären Bewegung von erhöhtem Subsistenzniveau zu Bevölkerungswachstum zu Krisen und damit wieder zu Bevölkerungsabnahme und minimalem Subsistenzniveau ersetzte die Idee des laissez faire durch den Teufelskreis des laissez mourir . Das Bevölkerungsgesetz, göttliches lex naturae , besagte, daß partielle Übel wie Hunger und Krankheiten notwendig seien, um das generelle Gut menschlichen Fortschritts zu sichern. Die natürliche Balance zwischen Reproduktion und Produktion, Bevölkerung und Nahrung war Ausdruck göttlicher Providenz, mittels der die Menschheit im schmerzhaften Zustand minimaler Subsistenz gehalten wurde, die als permanenter Stimulus eines tugendhaften und selbstkontrollierten Lebens diente. [20]

In dieser negative Physikotheologie [21] verbanden sich zivilisationstheoretische und psychophysiologische Argumente, Ideen der Selbstregulation der Population und des Organismus. Auf Basis einer negativen Anthropologie, die den Menschen als „inert, sluggish, and averse from labour, unless compelled by necessity“ faßte, bestimmte Malthus die Notwendigkeit als „mother of invention“. Nur negative Stimuli konnten zu zivilisatorischer Entwicklung führen: „the endeavour to avoid pain rather than the pursuit of pleasure is the great stimulus to action in life“. [22] – “Had population and food increased in the same ratio, it is probable that man might never have emerged from the savage state.” [23] Hintergrund dieser Aussage war die Annahme einer zusammengesetzten Natur des Menschen, dessen rationale Fähigkeiten durch sein körperliches Verlangen nach Nahrung und durch die Leidenschaft zwischen den Geschlechtern gefährdet seien. Die Garantie permanenter Bedürfnisbefriedigung stelle das Haupthindernis menschlicher Perfektibilität dar, [24] denn die körperlichen Bedürfnisse seien die „first great awakeners of the mind“, die die „Trägheit der ursprünglichen Materie“ zu stimulieren vermochten. Wie Malthus vor dem Hintergrund psychophysiologischer Theorien ausführte, deren physiologischen Begriff des „Stimulus“ er in den sozioökonomischen des „Anreizes“ übersetzte, sänke die Menschheit in ein Stadium der Wildheit zurück, [25] würde man diese Stimuli entfernen. Die körperlichen Bedürfnisse seien also nicht zur unmittelbaren Befriedigung geschaffen worden – vielmehr müsse der durch sie verursachte Schmerz des Mangels ausgehalten, kontrolliert werden. Nur so könne der Weg der Zivilisation eingeschlagen werden, [26] was Malthus in der stark erweiterten sechsten Auflage seines Essays on Population von 1826 anhand zahlreicher Beispiele unterentwickelter „savage races“ untermauert, denen mit der Möglichkeit direkter Bedürfnisbefriedigung jeglicher Anreiz fehle, mit ihren barbarischen Gewohnheiten zu brechen.

II. Unterklasse aus Gewohnheit

Im Rahmen des Malthusianischen Denkens stand fest, daß das Ende menschlichen Leids auch das Ende menschlicher Zivilisation bedeutete. Wohltätigkeit, die schlicht die Bedürfnisse der Armen befriedigte, würde diese nur dazu bringen, nicht mehr rational zu handeln und sie damit in ihre natürliche Trägheit zurücktreiben. Dieser Ansatz verband sich über das Konzept der Gewohnheit mit der Idee der notwendigen Stimulation vorausschauenden rationalen Handelns durch Unlust, die es dem Menschen ermögliche, seine in spezifischen Umweltzusammenhängen herausgebildeten schlechten Angewohnheiten unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zu durchbrechen. Die Vermittlung durch das Konzept der Gewohnheit erlaubte es, diese anthropologischen Überlegungen mit der amelioristischen Kernidee der philanthropischen Bewegung des Bürgertums im 19. Jahrhundert, [27] die Moral jedes Einzelnen zu stärken, ihn zu Fleiß, Sparsamkeit und vorausschauendem Handeln anzuhalten, zu verbinden: Individuelle Anstrengungen konnten psychophysiologisch zur Ausbildung von individuellen Verhaltensweisen führen, die wiederum als externe Stimuli im Sinne moralischer Vorbilder die Umweltbedingungen anderer Individuen positiv änderten, was letztlich zur Veränderung des gesamten Klassenverhaltens führen könne, [28] analog zur Entstehung der Zivilisation als einem System von Gewohnheiten, das Rassen und Nationen jenseits animalischer Triebe und Bedürfnisse im sozialen Gleichgewicht zu halten vermochte. In diesem Sinne argumentierte ausgehend von Malthus etwa der Edinburgher Essayist und Historiker Thomas Carlyle, eine der prominentesten konservativen Stimmen in den viktorianischen Diskursen um die Soziale Frage. [29] Vor dem Hintergrund der sündentheologischen Diskursfigur der natura lapsa [30] entwarf Carlyle eine paternalistische Anthropo-Theologie, die Armut als notwendiges Übel begriff, das den Menschen zu Arbeit stimulieren solle, um so zivilisatorischen Fortschritt hervorzubringen. Der Mensch sei nicht als „Verdauungsmaschine“ geschaffen worden, um seine Bedürfnisse zu befriedigen – es läge vielmehr Lust im Schmerz, denn Hunger sei die „große Basis unseres Lebens“, die den Menschen als „kämpfendes und arbeitendes“ Wesen zur Arbeit zwänge. [31] Entsprechend lebte die arbeitsunwilligen Unterschichten und „savage races“ wie „vor der Schöpfung“ – „als seien sie nicht erschaffen worden“, gleich den Tieren träge und gehorsam nur gegenüber ihren körperlichen Gelüsten. [32] Der Mensch, der sich seinen körperlichen Gelüsten ungezügelt hingebe, gleiche einem Tier, indem er sich seiner durch harte Arbeit erworbenen zweiten Natur entledige. Diese „zweite“ Natur des Menschen sind seine Gewohnheiten, die sich als dünnen Decke der Zivilisation über das animalische Chaos von Trägheit und Bedürfnisbefriedigung gelegt haben (eine Idee, die viel später bei Freud wieder auftaucht). Es handelt sich antrainierte Beharrungskräfte, um erworbene Dispositionen [33] :

Rash enthusiast of Change, beware! Hast thou well considered all that Habit does in this life of ours; how all Knowledge and all Practice hang wondrous over infinite abysses of the Unknown, Impracticable; and our whole being is an infinite abyss, overarched by Habit, as by a thin Earth-rind, laboriously built together ? But if ‘every man,’ as it has been written, ‘holds confined within him a mad-man,’ what must every Society do; – Society, which in its commonest state is called ‘the standing miracle of this world’! Without such Earth-rind of Habit, […] call it System of Habits, in a word, fixed ways of acting and of believing, Society would not exist at all. With such it exists, better or worse. Herein too, in this its System of Habits, acquired, retained how you will, lies the true Law-Code and Constitution of a Society; the only Code, though an unwritten one, which it can in nowise disobey. [34]

Während die Übersetzung des Konzepts der Gewohnheit in den auf das moralische Verhalten von Individuen und sozialen Gruppen ausgerichteten Kontext des Ameliorismus mit der Arbeit die innere, aktive Seite der Gewohnheits-bildung betonte, beschäftigen sich die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen des Unterschichtenverhaltens und die auf diesen aufbauenden administrativen Praktiken mit der Frage, wie Individuum und Klasse auf externe Stimuli reagieren . Nicht die moralphilosophische Frage, wie der Mensch aufgrund seines freien Willens aktiv richtiges Handeln herausbildet, sondern die sozialmedizinische Frage danach, wie organismische und soziale Systeme von Umweltbedingungen affiziert werden und ob sie dazu in der Lage sind, diese Einflüsse so zu verarbeiten, daß sein körperliches Gleichgewicht aufrechterhalten werden kann, stand hier zur Diskussion.

Als James Phillips Kay-Shuttleworth, Arzt und Sekretär des Manchester Health Board, 1832 eine Studie über den physischen und moralischen Zustand der arbeitenden Klassen vorstellte, klagte auch er über die „künstliche Struktur“ der Armengesetze, denen es nicht gelang, zu tugendhaftem Verhalten zu motivieren, die vielmehr „indigence, improvidence, idleness and vice“ [35] aufrecht erhielten. Nur eine Anhebung der Moral der Armen könne zu einer generellen Verbesserung ihrer Situation führen. [36] Orientieren müßten diese sich an den Tugenden des zivilisierten Menschen, der fleißig ist, sich anstrengt und kontrolliert, seine Appetite zügelt, spart und Maß hält. [37] Worin sich Kay allerdings von amelioristischen Positionen unterscheidet, ist, daß er die ungezügelte Bedürfnisbefriedigung deshalb für gefährlich hielt, weil sie einen Teil der Energie des menschlichen Körpers absorbiere, der anderenfalls verwandt werden könne, um rationale Handlungen zu unterstützen. Kay, der über sein Medizinstudium in Edinburgh mit der dortigen Schule der Psychophysiologie vertraut war, betonte nicht einfach den Zusammenhang zwischen Kampf ums Dasein und individueller Moral, sondern den zwischen Umwelteinfluß und organismischer Selbstregulation über Gewohnheiten. Damit verband sich eine Emphase auf den materiellen und sozialen Umständen der Armut, die animalische Gewohnheiten des Menschen stärkten, wie sie sich, wie Kay rassentheoretisch argumentierte, bei den savage races fänden. Kay bediente sich des seinerzeit beliebten Beispiels der Iren, um einen anthropologischen Typus zu beschreiben, der sich so verhielt, daß er notwendig zum Opfer des iron law werden mußte:

The system of cottier farming, the demoralization and barbarism of the people, and the general use of the potato as the chief article of food, have encouraged the population of Ireland more rapidly than the available means of subsistence have been increased. Debased alike by ignorance and pauperism, they have discovered, with the savage, what is the minimum of the means of life, upon which existence may be prolonged. The paucity of the amount of means and comforts necessary for the mere support of life , is not known by a more civilized population, and this secret has been taught the labourers of this country by the Irish. The contagious example which the Irish have exhibited of barbarous habits and savage want of economy, united with the necessarily debasing consequences of uninterrupted toil, have demoralized the people. [38]

In ihren „barbarischen Angewohnheiten“ folgten die irischen Wilden der stumpfsinnigen Routine animalischen Verhaltens, dem Zirkel von stimulus und response , von körperlichen Appetiten und deren unmittelbarer Befriedigung. Ihr improvidentes Verhalten bedrohe gar die britische Gesellschaft, denn innerhalb eines sozialen Körpers sei „every part of the system […] necessary to the preservation of the whole,“ [39] – “the” strongest survive; but the same causes which destroy the weakest, impair the vigour of the more robust”. [40]

Um die Zivilisation auf einer Stufe jenseits des primitiven Lebens zu halten, um Degeneration, um einen Rückfall in das Stadium der „reckless race[s]“ [41] zu verhindern, waren Religion und Moral zwar unumgänglich – in Kays Diskussion des wilden, primitiven Teils der Gesellschaft, der am Subsistenzminimum lebt, stellten die Iren allerdings nicht mangels individueller Moral die größte Bedrohung dar. Diese hing vielmehr mit den spezifischen Umweltbedingungen zusammen, in denen weite Teile der Bevölkerung – Iren, Arme, Arbeiter – lebten, und die die zivilisierte Gesellschaft selbst hervorgebracht hatte: Die repetitive mechanische Arbeit des „dull factory life“, der Versuch, sich mit der „exhaustless power of the machine“ zu messen, führe zu geistiger und moralischer Ermüdung und fördere die „animal habits in man“: „He becomes reckless. He disregards the distinguishing appetites and habits of his species. He neglects the comforts and delicacies of life. He lives in squalid wretchedness, on meager food, and expends his superfluous gains in debauchery.“ [42] Die unteren Bevölkerungsschichten verzichteten auf die „comforts of life, in order that they may wallow in the unrestrained licence of animal appetite.“ [43] Ihre schlechte Ernährung in Verbindung mit zu wenig Licht und frischer Luft, die verschmutzte, heiße und enervierende Atmosphäre in den Fabriken (schon wegen der schieren Masse an Menschen), ihre feuchten, kalten und schmutzigen Behausungen und das schlechte Abwassersystem – all dies müsse in Degeneration münden. Da alle organismische Bewegung, ob rationaler oder animalischer Natur, aus denselben Ressourcen vitaler Energie gespeist wurde, mußten externe Faktoren, die diese Energie abzogen, gefährlich erscheinen: „The evils affecting the working classes, so far from being the necessary results of the commercial system, furnish evidence of a disease which impairs its energies, if it does not threaten its vitality.“ [44]

Ähnlich wie Kay trat auch sein bereits oben genannter Kollege Alison für eine Verwissenschaftlichung des Umgangs mit der sozialen Frage ein, machte Beobachtung und Sammeln von Fakten zur Voraussetzung administrativer Maßnahmen: nur eine genaue Kenntnis der Gewohnheiten der Unterschicht sei hier hilfreich. [45] Auch Alison argumentierte, daß unwirtliche Umweltbedingungen die körperlichen Energien in einer Art beeinflussen konnten, die das Durchbrechen schlechter Angewohnheiten verhinderte, ja mithin gar zum Tod führen könne: Tod infolge von Alkoholismus fände sich beispielsweise insbesondere in der Unterschicht, „and no one who observes the habits of that class of society can doubt that this auxiliary cause is simply the want of sufficient nourishment and sufficient clothing.“ [46] Auch Alison stellte einen Bezug zwischen Klassenverhalten und zivilisatorischer Rückständigkeit her, wenn er einen medizinischen Bericht über die Armen in Dublin mit den Worten zitiert: „A population increasing but not improving, blending most of the evils of civilisation with the ignorance, apathy, sloth, and dirty habits of complete barbarism: such is the melancholy picture presented by the lowest classes in this country.“ [47] Zwar ließen sich durchaus unterschiedliche nationale Gewohnheiten feststellen, diejenigen der untersten Schichten aber näherten sich einander an, ließen sich also nicht mehr über kulturelle Unterschiede erklären, sondern nur über allgemein anthropologische Reaktionen auf Umweltstimuli. [48] Um die negativen Umweltstimuli auszusetzen, die zu einem Verfall der Gewohnheiten führen müßten, empfahl Alison ähnlich Kay strukturelle Reformen („charity by law“), [49] um so wieder Anreize zum Durchbrechen schlechter Angewohnheiten zu schaffen:

The truth is, that below a certain grade of poverty, the check of moral has no power. Twenty-five years of observation of the habits of the poor have shewn me, that there are none among whom population makes so rapid progress those who see continually around them examples of utter destitution and misery. In such circumstances, men hardly look forward to the future more than animals. It is easy for us to say, that by cutting off from a poor family any prospect of relief, in case of destitution, we can make them careful and prudent. The practical result is widely different. Another alternative is uniformly embraced. They lower their habits ; and those who have not been accustomed to observe them, are not aware how much reduction of comfort the family of a labouring man, disabled or deprived of employment, may undergo, and not only life be preserved, but the capacity for occasional irregular and carious employment continue. [50]

Kay Shuttleworth und Alison übernahmen hier das Gewohnheitskonzept der Edinburgher Psychophysiologie: William Cullen hatte das vitale Prinzip als eine Imponderabilie gedeutet, eine Form von Energie, eine „animalische Kraft“, die das Gehirn selektiv an verschiedene Orte des Körpers aussende. Mit dieser „energy of the brain“, die den Übergang der Neurophysiologie von einem Empfindungs- zu einem energetischen Prinzip markierte, ging auch eine Mechanisierung und Quantifizierung vitaler Prozesse einher, die Cullen tendenziell auf Ab- und Zunahme, Ebbe und Flut von Erregung reduzierte. [51] So gewannen die materiellen Lebensumstände an Bedeutung, da sie die fragile Balance des Körpers zu stören vermochten, indem sie die vitale Energie des Arbeiters oder Armen erschöpften. [52] Hier, und nicht bei der individuellen Moral mußte man ansetzen, wollte man Armut effektiv bekämpfen, denn um sich selbst zu erhalten paßt sich ein Organismus auch problematischen, harschen Lebensumstände an, indem er entsprechende Gewohnheiten entwickelt: Er reguliert sich herab, verläßt seinen optimalen internen Gleichgewichtszustand, um sich auf niedrigem energetischem Niveau einzupendeln. Auf diesem Niveau übermäßiger Irritabilität reagiert der Körper unmittelbarer auf Umweltstimuli, verliert zusehends die Kontrolle über seine Appetite, was letztlich das Streben nach mehr als den minimalen Notwendigkeiten des Lebens und damit die moralische Vitalität gefährdet. [53] Damit aber steht gar die natürliche Tendenz der politischen Ökonomie, „which“ is to develop the energies of society, to increase the comforts and luxuries of life, and to elevate the physical condition of every member of the social body“, [54] auf dem Spiel.

Ein wirksamer Ausweg aus der Armut kann also weder in moralischen Forderungen nach mehr Anstrengung und Tugend bestehen, noch darin, die Armen auf einem minimalen Subsistenzniveau zu halten, denn so wird der soziale Körper zur leichten Beute für Krankheiten und jedwede Form akzidenteller destruktiver Kräfte. Angesetzt werden muß vielmehr bei den Umweltbedingungen, die positive Gewohnheiten auf Basis einer energetische Balance des Organismus ermöglichen, was wiederum freies, tugendhaftes und rationales Handeln erst möglich macht. Die Übertragung des psychophysiologischen Konzepts der Gewohnheit individueller lebendiger Systeme in Kontexte der sozialen Frage führt damit zu neuartigen Erklärungen sozialer Systeme. Die solchermaßen perspektivierte Aneignung der Differenz zwischen System und Umwelt, die im psychophysiologischen Diskurs die Unterscheidung von Geist und Materie ablöst, lenkt den Blick auf die innere Dynamik und die Strukturbedingungen sozialer Systeme – Voraussetzung funktionaler Deutungen des Sozialen, wie sie im Rahmen der Herausbildung der Soziologie als wissenschaftlicher Disziplin (etwa bei Auguste Comte oder Herbert Spencer) kennzeichnend waren.

[1]Sir William Hamilton, Lectures on metaphysics [1836–37], Boston 1859, Vol. 1, 59, my italics.
[2]Cf. Hamilton 1859, Vol. 1, 57; Hamilton zitiert hier zustimmend Gatien-Arnoult, Doct. Phil., 39f.
[3]Cf. Hamilton 1859, Vol. 1, 124.
[4]Cf. Hamilton 1859, Vol. 1, 236. Latentes Wissen kann sich gar auf ganze „systems of knowledge, or certain habits of action“ beziehen.
[5]Cf. Hamilton 1859, Vol. 1, 236 (Sprache) u. 239 (Idiome).
[6]Cf. Hamilton 1859, Vol. 1, 247.
[7]Dies wirkt wiederum auf psychophysiologische und ethnologische Konzepte zurück, was hier allerdings nicht Gegenstand ist.
[8]Ilana Löwy, „Unscharfe Begriffe und föderative Experimentalstrategien. Die immunologische Konstruktion des Selbst“, in: Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950 , Berlin 1993, 188–206.
[9]
  1. Norton Wise, „Mediating Machines“, Science in Context 2, 1 (1988), 77-113, hier 89.
[10]Die undeserving poor durften nach der Intention der New Poor Laws von 1834 nicht auch noch auf Armenunterstützung hoffen, die sie doch in ihren schlechten Gewohnheiten nur bestärken mußte. Die Intention der Gesetzesreform war, so der Bericht der Royal Commission, eine negative: „to remove the debasing influences“ der alten Armutsgesetze (nach Lauren M. E. Goodlad, “’Making the Working Man Like Me’ Charity, Pastorship and Middle-Class Identity in Nineteenth-Century Britain; Thomas Chalmers and Dr. James Phillips Kay”, in: Victorian Studies (Summer 2001), 591–617, 592.)
[11]Erasmus Darwin, Zoonomia , London 1794–1796, 73 (pleasure and pain); 158, 178f. (instinctive knowledge, experience, observation, tradition); 163, 171 (Acquired knowledge).
[12]“greater energy and activity of the power of volition”: Darwin, Zoonomia, 183f.
[13]Ibid, 141–145.
[14]“actions excited by sensations [pleasure and pain]” / “voluntary (i.e. rational) actions […] ‘employed about the means to acquire such objects.’” W. P. Alison, “Instinct”, in: Robert Bentley Todd (ed.), The Cyclopaedia of Anatomy and Physiology , Vol. 3 London 1847, 1–29, 1f.
[15]Die entscheidende Frage bezüglich der menschlichen Willenskraft sei „whether the voluntary power is really to will what we please, or is only to do what we will.“ Alison, Instinct, 2.
[16]Alison, Instinct, 3. Cf. 1f., 4.
[17]Kurt Danziger, „Origins of the Schema of Stimulated Motion: Towards a Pre-history of Modern Psychology“, in: History of Science, 21:2=52 (1983:June), 183-210, hier 187.
[18]„Using the schema of the functional equivalence of mental and physical causes he stresses the importance of habit or ‘custom’ in regulating physiological functions, for sensations can become associated with motions which originally had physical causes.” Danziger, Schema of Stimulated Motion, 191.
[19]John Thomson, An account of the life, lectures and writings of William Cullen M.D., 2 vols, London 1832, vol. 1, 303; zit. nach Danziger, Schema of Stimulated Motion, 191.
[20]Cf. Malthus, Essay (1798), 127: “The principle, according to which population increases, prevents the vices of mankind, or the accidents of nature, the partial evils arising from general laws, from obstructing the high purpose of the creation. It keeps the inhabitants of the earth always fully up to the level of the means of subsistence; and is constantly acting upon man as a powerful stimulus, urging him to the further cultivation of the earth, and to enable it, consequently, to support a more extended population. But it is impossible that this law can operate, and produce the effects apparently intended by the Supreme Being, without occasioning partial evil.” Die Aussicht auf Hunger oder Tod waren Teil des göttlichen Plans, den Menschen zu Moral und Selbstkontrolle zu stimulieren, da nur die Furcht davor, daß das Bevölkerungsgesetz auf einen selbst wirkt, die Menschen zu harter Arbeit anregen und davon abhalten könnten, sich zu vermehren, wenn sie nicht über ausreichende Mittel zur Versorgung des Nachwuchses verfügten.
[21]Cf. Malthus, Essay (1798), 123, 126.
[22]Thomas Robert Malthus, Essay on the principle of population, as it affects the future improvement of society, with remarks on the speculations of Mr. Godwin, M. Condorcet, and other writers [1798], in: The works of Thomas Robert Malthus , ed. by E.A. Wrighley and David Souden, Vol. I, London 1986, 125, referring to Locke.
[23]Malthus, Essay (1798), 127.
[24]Cf. Malthus, Essay (1798), 89f.
[25]Cf. Malthus, Essay (1798), 124f.: “They are the first stimulants that rouse the brain of infant man into sentient activity, and such seems to be the sluggishness of original matter that unless by a peculiar course of excitements other wants, equally powerful, are generated, these stimulants seem, even afterwards, to be necessary to continue that activity which they first awakened. The savage would slumber for ever under his tree unless he were roused from his torpor by the cravings of hunger or the pinchings of cold, and the exertions that he makes to avoid these evils, by procuring food, and building himself a covering, are the exercises which form and keep in motion his faculties, which otherwise would sink into listless inactivity.”
[26]Ungezügelter Appetit hingegen führe zu zivilisatorischem Verfall: „Where the attachment between the sexes sinks into appetite, the heritage of our species is comparatively poor, and man approaches to the condition of the brutes that perish.“ Both quotes from Malthus, Essay (1798), XI.2.; Essay, Vol. 1, 18. „The most wholesome and invigorating food, eaten with an unrestrained appetite, produces weakness instead of strength.“
[27]Der Ameliorismus paßte gut zu den entstehenden restaurativen und anti-utopischen Denkmustern des frühen 19. Jahrhunderts, zum Kampf der Kirchen, so viel Einfluß wie möglich in der karitativen- und Bildungssphäre zu behalten, weshalb man die Notwendigkeit moralischen Verhaltens und individueller Tugenden wie Fleiß und Sparsamkeit predigte, die Benjamin Franklin betont hatte.
[28]Selbsthilfe und Selbstbildung sind der einzige Weg für Englische Arbeiter, dieser Situation zu entkommen. Bildung bedeutet geistige Kultivierung der Kalkulation und der Moral, Stärkung habituellen vorausschauenden Handelns durch mehr wertvolle Anreize und einen rationaleren und daher effektiveren Umgang mit Arbeit, was den Wohlstand eines Haushalts vermehrt. Vgl. u.a. Samuel Smiles’ Self-Help und Mill, Principles of Political Economy, 128, quoting Escher.
[29]Cf. An Occasional discourse on the Negro Question (1849), an essay on the situation in the West Indies: Thomas Carlyle, “Occasional Discourse on the Negro Question”, in: Fraser’s Magazine for Town and Country Vol. XL. (February 1849), here quoted from the American reprint under the title “West India Emancipation”, in: The Commercial Review of the South and West Vol. VIII (Old Series), Vol. II, No.4 (June 1850), 527–538. Cf. David M. Levy/Sandra J. Peart, “The Secret History of the Dismal Science: Economics, Religion and the Race in the 19th Century”, in: The Library of Economics and Liberty , Jan. 22/2001, 1–24 (www.econlib.org/library/Columns/Levy-Peartdismal.html); David M. Levy, How the Dismal Science Got Its Name: Classical Economics & the Ur-Text of Racial Politics , Ann Arbor/Michigan 2001.
[30]Des frühen Malthus und romantischer kontinentaler Gesellschaftstheorien u.a. Adam Müllers.
[31]Sie folgten dem “demand of dust”: “eat and fill your guts” (Carlyle, Arbeiten und nicht verzweifeln , 78.) (there is pleasure in pain, as hunger is the “great basis of our lives” that prompts man, the “struggling and labouring” being, to work. Carlyle, Arbeiten und nicht verzweifeln , 89f.).
[32]Wie er in seinem An Occasional discourse on the Negro Question (1849) (einem Essay über die Situation in den West Indies) hervorhebt (532f.).
[33]Carlyle, The French Revolution (1837), 33.
[34]Carlyle, The French Revolution (1837), 33f. [Anführungszeichen der Verständlichkeit halber – affirmativer Bericht über einen Autor – oben rausgenommen!].
[35]James Phillips Kay-Shuttleworth, The Moral and Physical Condition of the Working Classes; Employed in the Cotton Manufacture in Manchester [1832], 2nd enlarged ed. containing an introductory letter to the Rev. Thomas Chalmers [3–16], Plymouth/London 1970, 45.
[36]Kay, The Moral and Physical Condition, 6 (Letter to Chalmers).
[37]Cf. Kay, The Moral and Physical Condition, 6.
[38]Kay, The Moral and Physical Condition, 21.
[39]Kay, The Moral and Physical Condition, 90f.
[40]Kay, 70. Mikro- Makrokosmosanalogie zwischen dem menschlichen und dem sozialen Körper,
[41]Cf. Kay, 65: “The social body cannot be constructed like a machine, on abstract principles which merely include physical motions, and their numerical results in the production of wealth. The mutual relation of men is not merely dynamical, nor can the composition of their forces be submitted to a purely mathematical calculation. Political economy, though its object be to ascertain the means of increasing the wealth of nations, cannot accomplish its design, without at the same time regarding their happiness, and as its largest ingredient the cultivation of religion and morality.”
[42]Kay, 22: “Prolonged and exhausting labour, continued from day to day, and from year to year, is not calculated to develop the intellectual or moral faculties of man. The dull routine of a ceaseless drudgery, in which the same mechanical process is incessantly repeated, resembles the torment of Sisyphus […]. The mind gathers neither stores nor strength from the constant extension and retraction of the same muscles. […] To condemn man to such severity of toil is, in some measure, to cultivate in him the habits of an animal.”
[43]Ibid., 28f., on the habits of the “ill-fed, ill-clothed, and uneconomical – at once spendthrifts and destitute” poor.
[44]Kay, The Moral and Physical Condition, 79.
[45]Vgl. Alison, Observations, 110, 197f., hier etwa 64: “It is from improvement of the habits of the people only, that we can look for any permanent alleviation of the evils which the principle of population, as explained by Malthus, necessarily involves; and it is by experience only that we can learn, with certainty, in what circumstances this improvement is to be expected.” Auch Alison verweist auf den providentiellen Hintergrund des Bevölkerungsgesetzes (65)!
[46]William Pulteney Alison, Observations on the management of the poor in Scottland and its effects on the health of the great towns, London 1840, X. Vgl. ibid., 31: “Even independently of the disposition which is given to fever by the destitute condition of the poor in our large towns, it is generally admitted that the want of sufficient nourishment, and sufficient clothing, their irregular and precarious subsistence, and their occasional intemperate habits (which I believe to be the natural result of such a mode of life), are the fruitful sources of many other diseases which continually afflict them, and embitter and shorten their existence. And even independently of disease, the comfortless state of a great part of the population, especially of those who are unable for active employment, and are farthest removed from intercourse with the higher orders, is, in many such as to it incumbent, as I think, on those who deprecate any improvement in it, to point out distinctly what benefit is conferred on the community by its being in its present state.”
[47]Medical Report of the Dublin .. Sick Poor Institution, by Dr O'Brien, in Transactions of College of Physicians of Ireland, vol. H. p. 477.; zit. n. Alison, Observations, 8.
[48]Vgl. u.a. Alison, Observations, 29f., 111.
[49]Alison, Observations, 197.
[50]Alison, Observations, 85. Ähnlich Argument Alison später für Armenhilfe, um die Degeneration von Gewohnheiten zu verhindern und den Lebensstandard zu steigern (121, 184f.).
[51]Danziger, Schema of Stimulated Motion, 192.
[52]Cf. Kay, 27f., 88–100.
[53]Cf. Kay, The Moral and Physical Condition, 24f.
[54]Kay, The Moral and Physical Condition, 77f.

Kommentar

I

To become fit for the social state, man has not only to lose his savageness, but he has to acquire the capacities needful for civilized life. Power of application must be developed; such modification of the intellect as shall qualify it for its new tasks must take place, and above all, there must be gained the ability to sacrifice a small immediate gratification for a future great one. (…) All these evils [of poverty, J.S.], which afflict us, and seem to the uninitiated the obvious consequences of this or that removable cause, are unavoidable attendants on the adaptation now in progress. [1]

Dieses Zitat, Teil einer 1851 verfassten Replik auf jedwede Form philanthropischer Armenunterstützung, stammt aus der Feder eines Autors, dessen Name in Bernhard Kleebergs Ausführungen – welche ich heute dankenswerterweise kommentieren darf – allein im letzten Satz seines Papers eine wenngleich nur kurze, so doch zentrale Erwähnung findet: Es handelt sich um Herbert Spencer: Einer der Gründungväter der (britischen) Soziologie. Nicht nur aber sind mit dem von Spencer ins Feld geführten Phänomen der Armut, des Primitiven, des zivilisierten Lebens, des Verzichts auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung sowie des Gesellschaftsfortschritts verschiedene Topoi benannt, die allesamt auch im Mittelpunkt von Bernhard Kleebergs Ausführungen stehen. Vielmehr – und damit sind wir im Kern bei der dezidiert wissenschaftshistorischen Fragestellung seines Aufsatzes angelangt – geht es Bernhard Kleeberg im Kern um die Nachzeichnung eines um ca. 1800 einsetzenden Übersetzungsprozesses medizinisch-psychologischer Konzepte des individuellen Verhaltens in die Kollektiv betrachtungen einer allmählich entstehenden Soziologie; ein Übersetzungsprozess, der als Übersetzungsprozess gleichsam das Konstitutionsmoment eben jener Soziologie in nuce markieren soll.

Im Zentrum dieser begriffsidiomatischen Übersetzung – dieser, wie Kleeberg schreibt, »konzeptionellen Mediation« – steht der Begriff der ›Gewohnheit‹. Vor dessen psychophysiologischem Hintergrund eröffnet sich Anfang des 19. Jahrhunderts ein neuer sozialwissenschaftlicher Wissensbereich, in dessen Fokus – im selben Maße, wie die noch junge Soziologie untrennbar mit der Sozialen Frage in Gestalt der Pauperismuskrise verflochten war – vor allem die Gewohnheiten der Unterschicht standen.

Die Armen zeichneten sich dabei in diesem Theoriediskurs durch einen ganz besonderen Gewohnheitstypus aus: Jenseits von moralischer Vernunft und rationaler Vorausschau, wurden die Armen im beginnenden soziologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts als allein auf ihre unmittelbare Lustbefriedigung bezogen konzipiert – die Armutsliteratur jener Zeit spart bekanntlich nicht am Vorwurf einer animalischen Sexualität sowie eskapadischen Alkoholsucht der Unterschicht [2] –; höchst negative Gewohnheiten also, die gerade vermittelt über das neu eingeführte Konzept der Gewohnheit selbst nun aber positiv beeinflussbar zu werden beginnen.

II

Was hat es nun mit jenem psychophysiologischen Konzept der Gewohnheit auf sich, welches um 1750 im medizinischen Diskurs entsteht und – ich habe es bereits erwähnt – am Anfang des 19. Jahrhunderts Einzug ins Wissensfeld der Sozialwissenschaft hält?

Zwar blieb, so Kleeberg, das psychophysiologische Konzept der Gewohnheit voll und ganz der Vorstellung verhaftet, wonach uneingeschränkte Lustbefriedigung jeglichen zivilisatorischen Fortschritt verhindere. Diejenigen, die sich der Anstrengung der Selbstkontrolle verweigerten, negierten ihre Menschlichkeit als solche – und sanken damit in den Zustand primitiver Verwilderung hinab. Das Novum der Gewohnheitsthematik aber – und vielleicht müsste man auch sagen: ihre genuine*Soziologik* – lag nun aber darin, dass mit der Übertragung dieses Konzepts ein Perspektivenwechsel möglich wurde. Die Unzivilisiertheit der Armen nämlich wurde nicht mehr einfach nur mit einem moralisch-individuellen Versagen in Zusammenhang gebracht. Vielmehr wurden nun zugleich die Einwirkungen externer Stimuli mitreflektiert: Im Gegensatz zu den individuellen Tugenden gewann das ›Milieu‹ an zunehmender Relevanz. Fortan sind es also Umwelteinflüsse, die das Sozialverhalten der Unterschicht entscheidend (mit)prägen, und die es – will man die schlechten Angewohnheiten der Armen bekämpfen – bewusst umzugestalten gilt.

In seiner soziologischen Übersetzung scheint mir das entscheidende Element des psychophysiologischen Gewohnheitskonzepts darin zu liegen, dass mit diesem Konzept eine analytische Scharnierfunktion einzunehmen möglich wird: Eine Scharnierfunktion zwischen Moralphilosophie und Mechanizismus, zwischen dem Postulat der Willensfreiheit und dem Postulat unumgänglicher Determination. Gewohnheiten, so führt B. Kleeberg mit Blick auf den Mediziner William Cullen – nur am Rande: dem Begründer des Neurose-Konzepts – aus, werden als organisch ›abgespeicherte‹ Reaktionen, als inkorporierte Erfahrungen auf Umweltstimuli konzipiert. Im selben Maße, wie sie damit eine bewusst entscheidende ratio in ihrer Autonomie hemmen, justieren Gewohnheitshandlungen somit die zukünftige Beziehung zwischen Organismus und Umwelt maßgeblich vor. Gewohnheitshandlungen, so schreibt B. Kleeberg, sind »Aktivitäten zwischen willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen« – und freilich fällt dem kultursoziologisch interessierten Leser an dieser Stelle auf, in welch selbstredend biologistischem Maße das psychophysiologische Gewohnheitskonzept die Bourdieusche Habitustheorie [3] vorweg zu nehmen scheint. Denn auch Gewohnheiten lassen sich als physisch-kognitive Wissensspeicher begreifen, die, ich zitiere nochmals Kleeberg, die »zweite – kulturelle – Natur des Menschen bestimmen, seine spezifischen Sitten und Gebräuche, seine Denk- und Glaubensmuster, sein Verhalten, seine Sprache und Idiome«.

III

Bernhard Kleeberg konzentriert sich in seinem Paper nun vor allem auf zwei Erklärungsversuche der Pauperismuskrise, die beide das Stimulus- und Gewohnheitskonzept psychophysiologischer Provenienz in ihren Theorieapparat übernehmen.

Zum einen handelt es sich hierbei um das Malthusianische Bevölkerungsgesetz – die ewige Diskrepanz zwischen einem exponentiellen (oder geometrischen) Bevölkerungswachstum auf der einen Seite sowie einer immer nur linear (oder arithmetisch) steigenden Nahrungsmittelproduktion auf der anderen –; ein Bevölkerungsgesetz, welches Malthus im selben Maße als göttlichen Willen proklamiert, wie er es zugleich in einer zutiefst negativen Anthropologie verankert. Von Natur aus faul, träge und arbeitsscheu, ist der Mensch – und wie sollte es anders sein: der Arme im Besonderen – für Malthus allein über den schmerzhaften Stimulus von Hunger und Leid an ein tugendhaftes Dasein zu gewöhnen. Die Gewöhnung an harte Arbeit bildet in dieser Konzeption den dünnen Firnis der Zivilisation, unterhalb dessen – beim Ausbleiben jener Stimuli – sogleich die blanke Unvernunft des Barbarischen verborgen liegt.

Gegenpol zu Malthus’ negativer Anthropologie bilden die sozialmedizinischen Ansätze des frühen 19. Jahrhunderts – und dies ist die zweite Theoriebewegung, entlang derer Bernhard Kleeberg die psychophysiologische Übersetzung des Gewohnheitskonzepts in die Sozialwissenschaften veranschaulicht. Vor dem Hintergrund der psychophysiologischen Trias von Umwelteinflüssen, organischer Selbstregulation und Gewohnheitshandlungen wurden in diesem Kontext nun vor allem die materiellen wie auch sozialen Umstände der Armut betont: Die schlechten Behausungen, die zusammengedrängten Geschlechter, das vielbeklagte ›dull factory life‹. Den Armen, so der Sozialreformer James Philip Kay, auf den sich B. Kleeberg maßgeblich bezieht, werden durch die negativen Einflüsse der Fabrik wichtige Lebensenergien entzogen, die sie für die Ausbildung einer tugendhaften Existenz dringend benötigten – oder umgekehrt formuliert: Um zu überleben, passt der Organismus seine Gewohnheiten auch an höchst unwirtliche Lebensumstände an, was – im wahrsten Wortsinn: not gedrungen – den Verlust moralischer Vitalität zur Folge habe.

IV

Zum Abschluss sollen nochmals kurz verschiedene Momente der Argumentation Bernhard Kleebergs aufgegriffen werden, die mir speziell unter dem Aspekt der Übersetzung – unseres Tagungsthemas – als besonderes relevant erscheinen.

Zunächst gehört die Übersetzung des psychophysiologischen Gewohnheitskonzepts in die frühen Sozialwissenschaften – eines Konzepts, welches nach den Mechanismen organischer Selbstregulation fragt – zum genealogischen Bestandteil eines Theorieidioms, dessen enorme Bedeutung man sich in Erinnerung rufen sollte: Ich spreche natürlich vom Organismus als der Leitmetapher des sozialwissenschaftlichen Denkens im 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts schlechthin. [4] Mit diesem allgemeinen – von Kleeberg wohl aufgrund seiner Offensichtlichkeit nicht erwähnten – Hinweis soll demnach der Bedeutungshorizont aufgezeigt werden, innerhalb dessen der von Bernhard Kleeberg dargestellte Übersetzungsprozesses verortet, und als dessen theoretischer Vorläufer dieser betrachtet werden kann.

Nimmt man – zweitens – jenen psychophysiologischen Übersetzungsprozess nochmals etwas genauer in den Blick, so fällt zudem auf, in welch geradewegs diametraler Weise das Konzept der Gewohnheit auf die beginnenden Sozialwissenschaften Einfluss zu nehmen scheint. Ist der Mensch für Malthus von Natur aus ein lustbesessener Wilder, der erst durch die Umweltstimuli des Leids seine Humanisierung erfährt, so ist es für die sozialmedizinische Strömung ganz im Gegenteil der Umwelteinfluss des Zivilisationsfortschritts selbst, der – in Gestalt des Industriellen – die Dehumanisierung des Menschen vorantreibt. Wir begegnen hier also zwei radikal unterschiedlichen Ansätzen, die jedoch gleichermaßen das Gewohnheitskonzept der medizinischen Psychophysiologie übernommen haben – wobei in diesem Zusammenhang indes zu fragen wäre, ob sich die tatsächliche ›Soziologisierung‹ jenes Konzepts nicht erst mit der sozialmedizinischen Variante vollzieht, während Malthus’ Konzept letztendlich der bekannten moraltheologischen Unterscheidung von ›würdiger‹ und ›unwürdiger‹ Armut verhaftet bleibt. [5]

Schließlich will ich – drittens – noch einen Punkt aufgreifen, der in Bernhard Kleebergs Argumentation von Beginn an mitschwingt, wenngleich er diesen nicht ausarbeitet: Es handelt sich hierbei um die figurative Funktion des ›Primitiven‹. Auf den enormen Einfluss, den der Kolonialisierungsdiskurs des 19. Jahrhunderts auf die sozialwissenschaftliche Klassen- und Armutskonzeption jener Zeit ausübte, wurde in der Forschungsliteratur mehrfach hingewiesen. [6] Betrachtet man nun indes die Modi, in denen die absolute Fremdheit des ›Primitiven‹ in sozialwissenschaftlichen Texten des 19. Jahrhunderts – seien sie bürgerlich-konservativer oder sozialrevolutionärer Prägung – fortwährend als eine Synekdoche innergesellschaftlicher Armuts- und Unterschichtenphänomene fungiert, so ließe sich zumindest die Frage stellen, ob es sich bei der Darstellung des Armen vermittels der Figur des ›Primitiven‹ womöglich um eine Art Leerstelle oder Universalvokabel handelt. Deren figurative Funktion würde dann nämlich genau darin bestehen, durch die vermeintliche Evidenz einer radikalen sozialen Jenseitigkeit auf Übersetzungsprozesse jedweder Art verzichten zu können.

[1]Spencer, H. 1880 [1850]. Social Statics . New York. 356.
[2]Ein Überblick zu dieser Thematik findet sich etwa bei Corbin, A. 1984. Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs . Berlin. Stallybrass, P. 1990. 'Marx and Heterogeneity. Thinking the Lumpenproletariat', Representations , Voume: 69-95. Habermas, R. 2008. 'Wie Unterschichten nicht dargestellt werden sollen: Debatte um 1890 oder "Cacatum non est pictum!"', in R. Lindner and L. Muser (eds.), Unterschicht. Kulturwissenschaftliche Erkundungen der ›Armen‹ in Geschichte und Gegenwart , 97-122. Freiburg.
[3]Bourdieu, P. 1982. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft . Frankfurt/M.
[4]Vgl. Lüdemann, S. 2004. Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären . München.
[5]Obgleich hinzugefügt werden sollte, dass Malthus in den – stark erweiterten – Folgeausgaben seines Bevölkerungsgesetzes mehr und mehr die Möglichkeit eines durch vergangene Erfahrungen bedingten Gewohnheitswechsels der Armen in Erwägung zieht, die durch ihr neu habitualisiertes Verhalten demnach den ewigen Kreislauf des laissez mourir potentiell zu durchbrechen imstande wären und somit nur noch indirekt auf negative Stimuli angewiesen blieben.
[6]Vgl. Dießenbacher, H. 1986. '"Kolonisierung" fremder Lebenswelten. Über "Menschenfischer" im eigenen Land', in S. Müller and H.-U. Otto (eds.), Verstehen oder Kolonialisieren? Grundprobleme sozialpädagogischen Handelns und Forschens , 207-26. Bielefeld. Nord, D. E. 1987. 'The Social Explorer as Anthropologist: Victorian Travellers among the Urban Poor', in William Sharpe et al. (ed.), Visions of the Modern City. Essays in History, Art, and Literature , 122-34. Baltimore / London, Herbert, C. 1988. 'Rat Worship and Taboo in Mayhews London', Representations , Voume: 1-27. Lindner, R. 2004. Walks on the Wild Side. Eine Geschichte der Stadtforschung . Frankfurt/New York.